Spirituelle Krisen

Viele Menschen sind in der heutigen Zeit auf der Suche nach Erfahrungen, die ihrem Leben Sinn und Bedeutung geben können und möchten die tieferen und verborgenen Bereiche ihres Daseins erkennen.

Dabei treffen sie auf ein unübersehbares Angebot an esoterischen und spirituellen Praktiken und Lehrern und Lehrerinnen, die sie unterrichten. Irgendeine Person oder eine bestimmte Praxis ziehen einen besonders an, man lässt sich vertrauensvoll darauf ein, ohne übersehen zu können, wohin die „innere Reise“ führt. Nicht selten werden dabei extreme und außergewöhnliche Erfahrungen gesucht. Solche Bewusstseinserfahrungen (die das Gewohnte und Bekannte übersteigen) können – vor allem, wenn sie den Praktizierenden unvorbereitet treffen –  die Stabilität unserer Psyche auf eine enorme Probe stellen und für gewisse Zeit stark beeinträchtigen. Die gleiche Wirkung haben bisweilen auch extreme (oft traumatische) Lebenserfahrungen, deren Intensität zunächst nicht verarbeitet werden kann (z.B. Geburt, Nah-todeserfahrung, Unfall, schwere Krankheit, sexuelle Erfahrungen). Für solche Phänomene hat sich der Begriff  „Spirituelle Krise“ (engl. „spiritual crisis“) bzw. „Spiritueller Notfall“ (engl. „spiritual  emergency“) eingebürgert.

Die Symptome, die mit einer solchen Krise einhergehen, können in Form von physischen Störungen, (z.B. Rücken-, Kopf-, Gliederschmerzen, Muskelzittern, vegetative Symptome, Fieber) und/oder in Form von psychischen Störungen (z.B. ekstatische Zustände, Halluzinationen, Illusionen, Ängste, Depressionen) auftreten. Sie verschwinden in der Regel erst dann wieder, wenn die außergewöhnlichen Erfahrungen körperlich und seelisch verarbeitet und in den eigenen  Lebenszusammenhang integriert worden sind. Eine solche Verarbeitung und  Integration kann, je nach dem Ausmaß der „Erschütterung“, Tage, Monate oder viele Jahre in Anspruch nehmen.

Meist werden von den betroffenen Personen tiefe Einsichten und ein Zuwachs an Verstehen erlebt, deren Wahrheitsgehalt so eindrücklich ist, dass ein neuer Sinnzusammenhang entsteht. Häufige Themen im Rahmen solcher Krisen sind (nach Lukoff): 1. Der Tod, Todeserfahrungen 2. Wiedergeburt 3. Eine (innere) Reise 4. Begegnungen mit Geistwesen  5. Kosmische Konflikte 6.Magische Kräfte 7. Erneuerung der Gesellschaft  8. Vereinigung mit dem Göttlichen.

Spirituellen Krisen wird ein starkes Heilungs- und Veränderungspotential  nachgesagt (z.B. Grof & Grof), eine gelungene Verarbeitung führt zu einem gestärkten Selbst- und Identitätsbewusstsein und einem größeren Engagement im Bereich gesellschaftlicher Verantwortung.

Deutungsmodelle

Beschreibungs- und Deutungsmodelle solcher schwierigen Transformationserfahrungen variieren entsprechend dem weltanschaulichen (religiös, esoterisch, wissenschaftlich etc.) und kulturellen Hintergrund erheblich. Nicht selten wird das gleiche Erleben, das in einem modernen wissenschaftlich-medizinischen Kontext als krankhaft (pathologisch) gewertet wird, in anderen Zusammenhängen (z.B. einer Yoga-Tradition) als Zeichen spirituellen Fortschritts gedeutet. Dementsprechend ergeben sich natürlich auch unterschiedliche Vorschläge, wie die „Störung behoben“ (pathologische Sichtweise), bzw. „die spirituelle Erfahrung unterstützt“ (spirituelle Deutung) werden kann.

Die Person, die ein oder mehrere solcher Erlebnisse hatte, wird immer nach einem für sie sinnhaften und nachvollziehbaren Verstehenszusammenhang suchen. Wenn sie selbst das Erlebte als eine spirituelle Erfahrung erkennt, wird jede andere Deutung als Abwertung empfunden und meist zutiefst kränkend erlebt. (Nichts ist so verletzbar wie religiöse Gefühle!) Für die Überwindung der Krise ist die Einordnung des Erfahrenen in ein positives Gesamtverstehen unerlässlich.

Modelle dafür bieten die mystischen Traditionen aller  Weltreligionen (z.B. die „dunkle Nacht“ des christlichen Mystikers Johannes v. Kreuz), aber auch die Lehren jahrhundertealter Traditionslinien, die spirituelle Praktiken (mit oder ohne religösem Hintergrund) unterrichten. Auch moderne psychologische Sichtweisen, die solche Krisen als Entwicklungsphänomene verstehen, können dabei nützlich sein.

Ich persönlich finde das Kundalini-Modell aus einer indischen Yoga-Traditionslinie (z.B. Joan S. Harrigan) und modernere psychologische Theoriebildungen zur Umwandlung des Identitätserlebens (z.B. Robert Kegan, Ali H. Almaas) im Zusammenhang mit krisenhaften spirituellen Erfahrungen besonders hilfreich.

Kundalini

Kundalini, bzw. Kundalini-Shakti wird in der indischen Tradition die (weibliche) göttliche Energie (Schlangenkraft) genannt, die zunächst zusammengerollt und „schlafend“ im untersten Teil des Rückens vorhanden ist. Wird sie durch bewusste spirituelle Praxis, durch extreme Lebenserfahrungen oder spontan „geweckt“, dann beginnt sie ihren Aufstieg durch einen von mehreren möglichen feinstofflichen Energiekanälen mit dem Ziel, sich mit Shiva (ihrer männlichen Entsprechung) im Kronenchakra (oberstes Energiezentrum) zu vereinigen. Auf diesem Weg werden Blockaden beseitigt und die Energiezentren und Kanäle von Altlasten gereinigt. Sowohl der Aufstieg selbst als auch der Reinigungsprozess, können (müssen aber nicht) mit erheblichen körperlichen und psychischen Sensationen und Störungsphänomenen einhergehen. Wenn die Kundalini-Kraft jedoch durch adäquate Praxis und Lebensführung (über viele Jahre) unterstützt wird, dann findet sie ihren Weg alleine, zu dem nach der Vereinigungserfahrung auch der Wiederabstieg in die unteren Energiezentren gehört.

Das Kundalini-Modell bietet im Zusammenhang mit spirituellen Krisen eine Erklärung für außergewöhnliche körperliche Sensationen (Zittern, vegetative Symptome, Frieren,  Hitzeempfindungen, Taubheitsgefühle usw.) und auch viele psychischen Phänomene (z.B. das Aufsteigen alter traumatischer Erfahrungen).

Das Schema des Aufstiegs in höhere Bewusstseinsbereiche und des darauffolgenden Wiederabstiegs (= Erdung und Inkarnation der Erfahrungen), findet sich auch in vielen anderen Zusammenhängen als Beschreibung transformativer Prozesse wieder. (Z.B. Mythos der Heldenreise, Ochsenbilder des ZEN-Buddhismus, christliche Mystik).

Ego-Tod und Identitätsverlust

Psychologisch gesehen sind Erfahrungen im Zusammenhang mit dem sogenannten Ego-Tod, der in allen längeren spirituellen Entwicklungsprozessen eine Rolle spielt, besonders kritisch und angsterzeugend. Zu dieser Entwicklung, die eine Auflösung der Identifizierung mit den eigenen Ich-Struktu­ren bedeutet, schreibt der Psychologe und Transformationslehrer A.H. Almaas: Dieser Prozess „ist im  Transformationspro­zess der Schwierigste, da er von uns verlangt, einen Teil der eigenen Identität los­zulassen, und dieses Aufgeben kann als Auflösung, als Desintegration, als Fragmen­tierung oder als Gefühl Auseinanderzufallen erlebt werden. Dieser Wendepunkt kann sehr schmerzhaft und beängstigend sein, weil das alte Identitätsgefühl zerbröselt und ab­fällt, ohne dass man weiß, was – oder ob überhaupt etwas – an seine Stelle treten wird.“ (S. 43)

Jack Kornfield, ein zeitgenössischer buddhistischer Lehrer der Vipassana Einsichts-Meditation und Psychologe benennt das so: „Alle spirituellen Entwicklungsprozesse  … haben immer mit einem Loslassen unserer alten Identität und der Wiedergeburt in Form eines neuen Selbstgefühls zu tun.“ Er bezeichnet diesen Prozess als allumfassend: „er bezieht unser  ganzes Sein mit ein. Nachdem wir unsere spirituelle Identität verlassen haben, führt uns die Meditation durch die völlige Auflösung unseres Selbstgefühls, durch eine so >tiefe Nacht< wie der Tod selbst“ (S.186) Und später: „Dieser Prozess von Tod und Wiedergeburt kann sich in jedem denkbaren Zeitraum vollziehen“ (S. 191).

Nach Robert Kegan, Universitätsprofessor und Erforscher von Entwicklungsprozessen im Erwachsenenalter, kann sich (meist in der zweiten Lebenshälfte), das persönliche Ich-Erleben von einer als individuell empfundenen Identität zu einer über-individuellen Identitätserfahrung umwandeln. In diesem Transformations-(Umformungs-)prozess tritt immer vorübergehend ein Bedeutungsvakuum (Übergangsstadium) auf. Er erklärt das dadurch, dass die alten Bedeutungszusammenhänge erst auseinanderfallen müssen, bevor neue entstehen können.

Eigene Erfahrungen

Ich selbst bin vor über 20 Jahren, in meinem 36. Lebensjahr, auf dem spirituellen Hintergrund einer christlichen Prägung, einer 10-jährigen Achtsamkeitspraxis (Focusing) und einer intensiven Beschäftigung mit meinem Ego (Enneagramm), relativ unvorbereitet in eine hochenergetische Erfahrung „geraten“. Damals wusste ich nicht, was es war – genausowenig wie alle anderen, die ich fragte. Heute deute ich es als spontanes Kundalinierwachen.

Diese Erfahrung erlebte ich als autonomen Prozess, der nicht zu stoppen war. In dessen Verlauf ging ich durch die extremstem physischen und psychischen Erfahrungen, die mir bis dahin begegnet waren: Der Körper lief auf Hochtouren (Herzrasen, Zittern, Schweißausbrüche etc.) und im Erleben wurde ich „überschwemmt“, von sowohl neuen und tiefen Einsichten, als auch schmerzhaften und ängstigenden alten Gefühlen. Gleichzeitig mit einer Erweiterung meiner Bewusstseinsmöglichkeiten, schien eine Entleerung der verdrängten traumatischen Inhalte meines Unterbewusstseins stattzufinden. Damals schon beobachtete ich, dass der Prozess nach der Chakrenlehre einen aufsteigenden Verlauf nahm – er mündete in eine sehr ruhige Erfahrung der Einheit (Leere).

Diese initiatische Erfahrung hat Vieles in meinem Leben „auf den Kopf gestellt“, danach war kaum mehr etwas so wie vorher. Ein autonomer Selbst-Prozess hat seitdem die Regie über meine bewusste persönliche Entwicklung übernommen. Ich musste lernen, mich ihm bedingungslos anzuvertrauen. Ich betrachte diese Erlebnisse als Entwicklungen, die in einem Erwachsenenleben so oder anders stattfinden können. Sie lassen uns Menschen einerseits das tiefe Leid der Gefangenschaft und Enge unserer eigenen Ich-Bezüge spüren, andererseits eröffnen sie uns auch Wege zur Befreiung.

Auf diesem Hintergrund habe ich (zusammen mit anderen) 2005 eine Netzwerkinitiative „Spirituelle Krisen und Transformation“ gegründet und leite seit 2016 eine (überregionale) Beratungs-Stelle für Spirituelle Krisen und Transformationsprozesse.

Literatur

  • Almaas, A.H.: Facetten der Einheit. Das Enneagramm der Heiligen Ideen. Zwickau, Kamphausen, 2004.
  • Bragdon, E.: Spirituelle Krisen. Wendepunkte im Leben. Freiburg, 1991.
  • Gallen, M.-A.:  „Unterstützung in spirituellen Krisen“, connection-spirit 3/09 → PDF-DOWNLOAD
  • Grof, C.& Grof, S.: Die stürmische Suche nach dem Selbst. München, 1991.
  • Grof, S.& Grof, C.: Spirituelle Krisen. Chancen der Selbstfindung. München, 1990.
  • Harrigan, J.S.: Kundalini Vidya – The Science of Spiritual Transformation. A Comprehensive System for Understanding and Guiding Spiritual Development. Knoxville, TN, Fifth Edition, August 2002.
  • Kegan, R.: Entwicklungsstufen des Selbst. München, 1994, 3.Aufl.
  • Kornfield, J.: Frag den Buddha und geh den Weg des Herzens. München, 1995.
  • Kornfield, J.: Das Tor des Erwachens. München, 2001.
  • Kreuz, J.: Die Dunkle Nacht. Freiburg, 1995, 3.Aufl.
  • Lukoff, D.: From Spiritual Emergency to Spiritual Problem: The Transpersonal Roots of the New DSM-IV Category. Journal of Humanistic Psychology, 38(2), 21-50, 1998.
  • WIE-Was ist Erleuchtung 8: Bist du bereit, dich jetzt zu ändern? Zur Dynamik menschlicher Transformation, Frühjahr 2003.