Wenn wir achtsam sind, tauchen wir mit der Selbst-Wahrnehmung in unser gegenwärtiges Erleben ein. Unsere innere Wachheit vereint sich mit dem gelebten Augenblick. Wir bemerken, was gerade geschieht.
Verbindet sich diese Grundhaltung des Gewahrseins mit den Beschreibungen, die wir in unseren Enneagramm-Studien gelernt haben, dann können wir das Funktionieren unserer Charakter-Muster live erforschen. Das Enneagramm wird für uns zu einer Landkarte der augenblicklichen Erfahrung: Wiederkehrende Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen, die typischen Ausformungen unseres Erlebens, treten in den Fokus der Selbstbeobachtung.
Achtsames Wahrnehmen
Achtsames Wahrnehmen ist frei von Wertungen und ohne bestimmtes Wollen. Es kann Phänomene als Erscheinungen erkennen und beobachten, ohne sich mit ihnen zu identifizieren. Tauchen urteilende Gedanken oder handlungsleitende Motivationen in diesem Beobachtungsfeld auf, benennen wir sie und heben sie so in die Bewusstheit.
Auf diese Weise wird bislang Unbewusstes unserer Beobachtung zugänglich und es können sich freie Räume des Nicht-Identifiziert-Seins mit unseren Enneagramm-Mustern eröffnen. In der Haltung des so genannten „Zeugenbewusstseins“ agieren wir unsere typischen Denk- und Fühlweisen nicht automatisch aus. Wir halten stattdessen inne und lassen sie durch unseren Bewusstseinsraum hindurch ziehen.
Bedeutung der „inneren Resonanz“
Im „Focusing“ (Hans Neidhardt hat auf der letzten JHV und im EnneaForum darüber berichtet), erforschen wir aus dieser Haltung „innerer Achtsamkeit“ in besonderer Weise die (körperlich) gefühlte Bedeutung, die zu allen Wahrnehmungsereignissen in uns entsteht. Die feinen Reaktionen und Veränderungen in unserer Befindlichkeit können für uns zu einem Wegweiser werden, in welchen Momenten wir unmittelbar mit dem „Fluss des Lebens“ in Verbindung sind.
Ob wir uns gerade blockiert, eingeengt und festgelegt durch unsere Charakter-Muster erleben, oder versöhnt und in Frieden mit unserem So-Sein, darüber geben uns die innerlich erspürten Resonanzen Auskunft. Er-Lösung kann also – im wahrsten Sinne des Wortes – in der augenblicklich gefühlten Körperwirklichkeit als befreiender Moment erfahren werden.
Handlungen in Achtsamkeit
Wenn wir achtsam sind, entstehen Handlungsimpulse aus unserem Gewahrsein. Wie in der ZEN-Kunst des Bogenschießens, sind wir dabei nicht mehr auf Zielerreichung und Ergebnisse fixiert, sondern wir üben, Sein und Tun in Einklang zu bringen. So entsteht die Leichtigkeit, in der Pfeile wie von selbst ins Schwarze treffen.
Mit Hilfe des Enneagramms können wir unsere typischen „Verrenkungen“ erkennen, die uns in dieser oder ähnlicher meditativer Übung immer wieder im Weg stehen. Wenn die Leidenschaften „Zorn“, „Stolz“, „Eitelkeit“ usw. unsere Handlungen antreiben, dann sind wir im Hamsterrad des Agierens gefangen. Der freie Wille und auch die Hingabe an den Willen Gottes, bleiben in solchem Tun auf der Strecke.
Zentriertes Da-Sein weckt uns auf
Die achtsame Grundhaltung in allen Lebenslagen ist für uns westliche Menschen eher ungewohnt. Sie geht uns sprichwörtlich gegen den Strich: Wie ein Kamm, in der Gegenrichtung benutzt, richtet sie die „Haare“ unserer Enneagramm-Gewohnheiten auf. Im Spiegel der Achtsamkeitsübung springt uns das „Unerlöste“ – unser Schatten – ins Gesicht.
Gurdjieff hat diese Erkenntnis mit seinen bekannten „Movements“ in tänzerische Körperübungen umgesetzt, die sich nur in großer Achtsamkeit ausführen lassen. Jedes Herausfallen aus der zentrierten Wachheit, führt zu einer irritierenden Unterbrechung in der Leichtigkeit der Bewegungsabläufe.
Wandlung erfahren
Achtsamkeit ist zudem die notwendige und oft auch hinreichende Bedingung für einen Wandel in unseren festgefahrenen Gewohnheiten. Ohne ihr wäre es nicht möglich, Erlebensmuster zu erkennen und genauer zu studieren. Der absichtslose und bedingungslos annehmende Umgang mit allen Erfahrungen, stellt einen guten Nährboden für Veränderung zur Verfügung.
Wenn wir irritierendes und/oder schmerzhaftes Erleben (bei uns selbst und mit anderen) mitfühlend akzeptieren können, schmelzen Widerstände, Abwehrhaltungen und Re-Aktivitäten dahin. Alte Notlösungsmuster werden dann auch mal überflüssig und Versöhnliches geschieht. In besonderen Momenten erfahren wir solchen Wandel als göttliche Gnade.
Erschienen in EnneaForum 53 – Mai 2018