Enneagramm

Zur Geschichte

Das Enneagramm ( „Neunerfigur“ s. nebenstehendes Symbol) ist ein uraltes Modell, über dessen genaue Herkunft und Alter in der Wissenschaft noch immer diskutiert wird. Es wurde lange Zeit als Geheimwissen mündlich überliefert, erst in den 80er Jahren tauchten die ersten Veröffentlichungen dazu auf.

Verwendung

Das Spektrum der Verwendung dieses alten Modells reicht  in der  heutigen Zeit von (der wohl ursprünglichen Tradition) der spirituellen Unterweisung bis hin zur Personalauslese in Betrieben. LehrerInnen, die in der Tradition des russischen Lehrers Gurdjieff stehen, verwenden es  eher als Prozessmodell, die weiteste Verbreitung findet es jedoch als Charakter-  oder Typenlehre.  Diese Deutung, die im Wesentlichen auf den chilenischen  Psychiater Claudio Naranjo und seinen Lehrer Oscar Ichazo zurückgeht,  sieht die neun Ecken der Figur im psychologischen Sinne als neun typische  Wahrnehmungs-, Denk- , Fühl- und Verhaltensmuster (Charakterstile) und  im spirituellen Sinne als neun Arten von seinem höheren Selbst oder eigentlichen (göttlichen) Wesen getrennt zu sein. Die spirituelle Verständnisweise weist Parallelen zur christlichen Sündenlehre auf.

Das Enneagramm als Charaktermodell

In der ursprünglich von Oscar Ichazo gelehrten Form, wurden den neun Eckpunkten des Enneagramms neun sog. (emotionale) Leidenschaften und neun (kognitive) Fixierungen  zugeordnet.  Je nach dem vorherrschendem Überlebens-Instinkt, gibt es an jedem Punkt noch  eine spezielle Charakterisierung durch einen von drei Subtypen (selbsterhaltend, sozial, sexuell). Claudio Naranjo verdanken wir es, dass diese z.T. fremd und altertümlich anmutenden Begriffe mit modernem psychologischen und psychotherapeutischen Wissen über den menschlichen Charakter angereichert wurden.

Nach psychologischem Verständnis sind die neun Charaktermuster neun verschiedene Arten von Überlebensstrategien, die ein Kind in seinen ersten Lebensjahren entwickelt, um mit den Anforderungen und Konflikten, denen es in seiner Umgebung begegnet, zurechtzukommen. So gesehen sind sie Not-wendige Verhaltens- Fühl- und Denkmuster, die wir uns alle zulegen müssen, um unser Leben zu meistern.

Problematisch im psychologischen Sinne werden solche Muster dann, wenn sie starr und unflexibel ablaufen und der eigenen Entwicklung entgegenarbeiten, weil sie keinen Raum für Veränderung und Neues lassen. Man sagt, dass besonders in den mittleren Lebensjahren, wenn die Konflikte der sog. Midlife-Crisis auftauchen, diese Einschränkungen schmerzlich bewusst werden. Dem Wunsch nach Veränderungen (innen wie außen) stehen in dieser Zeit oft die Begrenzungen der eigenen eingeschliffenen Gewohnheiten entgegen. Der Blick in den Spiegel dieses alten Charaktermodells kann uns zu einer Bewusstwerdung der sonst gewohnheitsmäßig und unbewusst ablaufenden Muster führen. Dabei begegnen wir sowohl unseren tiefsitzenden Schattenaspekten als auch den Ressourcen und Stärken, über die wir verfügen.

Das Enneagramm unterscheidet sich von den herkömmlichen, in der Psychotherapie verwendeten Charakter-Modellen dadurch, dass es die Charakterphänomene als normale menschliche Erscheinungsformen deutet und sie nicht pathologisiert (als Krankheit bewertet).

Die spirituelle Dimension des Enneagramms

Die spirituellen Betrachtungsweisen des Enneagramms unterscheiden sich naturgemäß danach, in welcher religiösen Tradition dieses alte Modell verwendet wird. Sowohl im Christentum, als auch im Islam und anderen spirituellen Überlieferungen gibt es Hinweise auf eine jahrhundertealte Kenntnis der neun Leidenschaften bzw. des graphischen Symbols.

Ich möchte mich hier an die nicht religionsspezifische Darstellungsweise der spirituellen Dimension durch Sandra Maitri (2001) halten, die eine der ersten Schülerinnen (Anfang der 70er Jahre) von Claudio Naranjo war. In ihrer Beschreibung drücken die neun Eckpunkte des Enneagramms neun verschiedene Arten aus, wie Menschen von ihrem innersten (göttlichen) Wesen, ihrer Essenz getrennt sind. In diesem Sinne könnte  man das Enneagramm auch als Modell für unsere Ego-Strukturen bezeichnen.

Jedes der neun Muster idealisiert nach Maitri einen bestimmten Aspekt des ursprünglichen (göttlichen) Seins und versucht ihn durch Ego-Aktivität nachzuahmen. Sinn jedes spirituellen Transformations-Prozesses ist dann nach dieser Auffassung, mit den Ego-Aktivitäten mehr und mehr nachzulassen und zu den ursprünglichen (einst verlorenen bzw. im Überlebenskampf aufgegebenen) Qualitäten der Essenz zurückzufinden. Im Spiegel des Enneagramms können wir so gesehen sowohl erkennen, auf welche Art unser Ego die Trennung aufrechterhält, als auch eine Ahnung davon bekommen, wie wir unsprünglich (vor den Verformungen durch unser menschliches Dasein) gemeint waren.

Das Enneagramm in der Psychotherapie

In der Psychotherapie ist das Enneagramm meines Erachtens in erster Linie für die Therapeutin/den Therapeuten interessant. Durch die Auseinandersetzung mit ihren eigenen Charakterstrategien lernen TherapeutInnen, Strukturen in ihren eigenen Handlungs- Denk- und Fühl-weisen zu erkennen und werden dadurch in die Lage versetzt, sich für oder gegen die gewohnte Art der Reaktion zu entscheiden (Disidentifikation), je nachdem, wie das dem therapeutischen Prozess förderlich ist.

In der Transpersonalen Psychotherapie kann dem Enneagramm nach meiner Auffassung eine besondere Rolle zukommen. Da das Therapeuten-Ego der Faktor in der psychotherapeutischen Begegnung ist, der die Entwicklungs-, Wachstums- und Transformationsprozesse unserer KlientInnen am meisten stören kann, ist es von TherapeutInnen-Seite her wünschenswert, einen möglichst Ego-freien Beziehungs- Raum zur Verfügung zu stellen. Als Abbild unserer Ego-Strukturen bzw. Ego-Fallen bietet die Auseinandersetzung mit unserem Enneagramm-Muster dafür ein sinnvolles Bewusstwerdungsfeld.

Als diagnostisches Instrument neben anderen, kann das Enneagramm in der Psychotherapie auch für die Klientin/den Klienten nützlich sein, wenn es darum geht, Automatismen und Gewohnheiten in den eigenen Verhaltensweisen zu erkennen. Oft ist es im Rahmen einer Psychotherapie wichtig, alte Überlebensstrategien, die nicht mehr sinnvoll sind abzulegen, um den Raum für neue Lernerfahrungen frei zu machen. Da der Blick in den Spiegel des Enneagramms auch Auskunft über Ressourcen, Stärken und im spirituellen Sinn über unser ursprüngliches Wesen gibt, kann er in einem solchen Prozess zusätzlich auch eine unterstützende Wirkung haben.

Literatur:

  • Gallen, M.-A.: Das Fremde in mir – Schattenarbeit mit dem Enneagramm. In: EnneaForum 49, Mai 2016 →PDF-DOWNLOAD
  • Gallen, M.-A.: Die Suche nach der unschätzbaren Perle – ein Weg der Wandlung des persönlichen Selbst. In: EnneaForum 45, Juni 2014  →PDF-DOWNLOAD
  • Gallen, M.-A.: Über das Innehalten in der Enneagramm-Arbeit. EnneaForum 41, Mai 2012 →PDF-DOWNLOAD
  • Gallen, M.-A. Die Persönlichkeit im spirituellen Kontext. connection-online 5/11
  • Gallen, M.-A.: Postmoderne Erkenntnistheorien und das Enneagramm. EnneaForum 37, S. 04-05, Mai 2010
  • Gallen, M.-A., u.a.: Zur motivationalen Theorie der Subtypen im Enneagramm – drei Arten, unsere Existenzängste zu bannen. Unveröffentlichtes Seminar-Skript, 2010. →PDF-DOWNLOAD
  • Gallen, M.-A.: Spirituelle Not und Not-Lösung – das Kernthema in der Enneagramm-Theorie von A.H. Almaas. In. EnneaForum 28/2005. →PDF-DOWNLOAD
  • Gallen, M.-A., Neidhardt, H.: Das Enneagramm unserer Beziehungen. Reinbek, 1994.
  • Maitri, S.: Neun Porträts der Seele. Die spirituelle Dimension des Enneagramms. Bielefeld, 2001.
  • Palmer, H.: Das Enneagramm. München, 1990.
  • Naranjo, C.: Erkenne dich selbst im Enneagramm. München, 1992.
  • Rohr, R., Ebert, A.: Das Enneagramm. Die neun Gesichter der Seele. München, 1989.